Mittwoch, 24. August 2016

Inside Jazz: Fehler und Farben

Liebe Leser,
wie so oft im Leben: Alles Ansichtssache! Es geht mir heute um die Reputation von Tönen, die – über einen Song als Solo gespielt – nicht aus dem Tonvorrat des jeweiligen Song-Abschnitts entnommen sind. Die bösen Fehler, die ein Solo ruinieren! Oder sind es Farben, die selbiges interessanter machen? Ihr seht schon, so Musik- bzw. Jazzkram eben. Und vor allem Ansichtssache!
Grundsätzliche Betrachtung: Zunächst hat jede Dur-Tonleiter zumeist 7 Töne, die ganze Oktave mit allen Halbtönen 12, den nächsten Grundton eine Oktave höher mal nicht mitgezählt. Dieser Tonumfang der sogenannten chromatischen Tonleiter war Namensgeber der Zwölftonmusik. Aber das nur am Rande, davon habe ich wirklich keine Ahnung.

Im Folgenden (damit es auch mal ein Bildchen gibt) die allseits bekannte C-Dur-Tonleiter mit 7 (8) Tönen:


Und hier alle 12 (13), die chromatische Tonleiter:


Wenn wir nun ganz stumpf abzählen, stellen wir fest, dass durch permanentes chromatisches Dudeln (also alle 12) über eine Akkordfolge die Anzahl der richtigen Töne rein statistisch höher ist, als die der falschen. 7:5 für die Richtigen!
Aber – und nun kommen wir zum Thema – was ist denn richtig, was falsch? Zum Beispiel ist es im Jazz absolut üblich und zumeist als "wohlklingend" oder zumindest “interessant” eingeschätzt, gewünschte (Ziel-)Töne der Improvisation über einen Halbton darunter anzuspielen. Beim Anflug von oben muss man dagegen etwas mehr Sorgfalt walten lassen [hier sollte man die entsprechende 9 oder eben b9 aus der Tonleiter wählen… habe ich mal so gelernt]. Dass man dabei beispielsweise eine dorische Skala beim Hochspielen kurzzeitig zu harmonisch-Moll ändert, was man aber sieben Töne später wieder unter den Tisch fallen lässt, ist überhaupt kein Problem. Musik – permanenter Wechsel zwischen Spannung und Entspannung, sonst wird es langweilig, oder?
Und auch an dieser Stelle hilft ein bisschen Zählen: 7 Töne, chromatisch von unten angespielt, ergibt… 14 Töne, deren Gebrauch im Solo zumindest zulässig ist. Das sind mehr richtige Töne, als wir in der Tonleiter überhaupt haben. Super!
[Ist natürlich Quark, weil wir in (ionischen) Durtonleitern stets zwischen der 3. und 4. sowie zwischen der 7. und 8. Stufe per Definition einen Halbton haben, aber es verbleiben dann immer noch 12 richtige Töne, also alle!]
Ich darf also an dieser Stelle festhalten, dass uns allein die Chormatisch-von-unten-darf-immer-angespielt-werden-Regel (Ihr wisst, ich liebe mit Bindestrichen zusammengeklebte Wörter!) schon durchwegs fehlerfreie Soli beschert, und zwar immer.
Zudem weist mich ein Freund und Musikerkollege stets darauf hin, dass wirklich JEDE Abweichung von den Tönen der aktuell angesagten Skala als Alterierung der jeweiligen Skalentöne und somit als “Farbe”, nicht als “Fehler” betrachtet werden kann. Ein Akkord, über den mit einer vermeintlich falschen Tonleiter soliert wird, erhält dann eben (übrigens gratis) einen Packen Alterierungen dazu. Beispiel: Über E7 mit C-Dur soliert ergibt dann ein E7b9#9b13, einen wirklich farbigen Akkord.
Aber ernsthaft, das ist korrekt beschrieben und nicht ins Lächerliche zu ziehen! Und natürlich hat er Recht. Denn das Prinzip, dass ausschließlich tonarteigene Töne über einen Song zu Gehör gebracht werden dürfen, ist wohlbekannt. Es nennt sich ‘Schlager’ (aber die von der bösen Sorte).
Die Folgerung ist also: Wenn es vom eingesetzten Tonmaterial her keine Fehler, sondern nur Farben gibt und dennoch bisweilen Grausiges als Solo erschallt, liegt es wohl nicht an unseren 12 Tönen. Offensichtlich gibt es keine falschen Töne, wohl aber falsche Zeiten, zu denen selbige erklingen. So ist die beste Gelegenheit, Töne zur falschen Zeit zu Gehör zu bringen, wenn der Musiker immer einen kleinen Moment zu spät mit dem Anliegen kommt, die richtigen zu spielen. Zum Beispiel weil er den Song nicht gut genug kennt oder eben am Anfang seiner Improvisationskarriere steht. Durch derartiges Spiel steigt die Trefferquote für unpassende Töne (falsche gibt es ja per Definition nicht) erheblich, was dann zumeist auch ziemlich … äh … scheibenkleister klingt.
Eine zusätzliche Farbe im Solo wirkt nur dann, wenn sie Spannung aufbaut, die dann durch den folgenden eher farblosen diatonischen (also aus der Tonleiter entnommenen) Klang wieder zur Entspannung führt. Die ganzen durchgeknallten Bläser-Genies der Jazzgeschichte klangen nur deshalb so interessant und für ihre Zeitgenossen inspirierend, weil sie die falschen Töne zur richtigen Zeit gespielt haben. Nebenbei mit einer grandiosen Phrasierung und einem guten Ton, was weitere essentielle Bestandteile einer hervorragenden Improvisation sind.
Andersherum – die richtigen Töne zur falschen Zeit – werden Farben zu Fehlern.   
Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.
Euer
Gige


1 Kommentar:

  1. wie immer wahr gesprochen – bleibt vielleicht nur anzumerken dass die Idee, „falsche“ Töne als Alterierung zu verstehen, nur bei Skalen bzgl. Dominant-Septakkorden funktioniert, sonst nicht. Ansonsten gibt es bei guter Phrasierung und überzeugender musikalischer Aussage wirklich keine falschen Töne, was ein Beispiel vom Großmeister der Falschspieler (der besser Andersspieler) illustrieren mag https://www.youtube.com/watch?v=a2Sq2_iLBAo

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