Mittwoch, 2. Januar 2019

Erzeugerskalen

Liebe Leser,

hier nun eine Sache, die natürlich sonnenklar ist. Oder Teufelszeug. Tonleitern, Skalen mit so wohlklingenden Namen wie "Lydisch", "Harmonisch-Moll" oder "Alteriert" sind für die eine Hälfte der Musiker der Heilige Gral, für die andere überflüssiger Kram, der einem nur das Feeling versaut. Wie so oft ist natürlich beides Unsinn.

Ich selbst habe viele Jahre gebraucht, bis ich das System der Kirchentonarten verstanden habe. Und dann kommen die Kollegen mit Mixolydisch/#11, Vermindert und Alteriert ums Eck, zusammen mit jeder Menge Tipps, wann genau welche Skala zu verwenden wäre. Und ich blickte – mal wieder – überhaupt nicht mehr durch.

Erzeugerskalen


Alle unsere Akkorde (und auch Skalen) entnehmen wir sogenannten Erzeugerskalen. Auf jedem Ton jeder Erzeugerskala kann man durch Schichtung leitereigener Terzen Vierklänge erzeugen, welche dann das Akkordmaterial der jeweiligen Skala bilden.

Einige Musiker geben als Erzeugerskalen an:


  • Melodisch-Dur
  • Melodisch-Moll
  • Harmonisch-Dur
  • Harmonisch-Moll


Das ist inhaltlich korrekt und auch logisch, wenn man das System verstanden hat. Meine Meinung dazu findet Ihr in diesem Beitrag →

Aber der meines Erachtens verständlichste Weg ist der, persönlich die historische Entwicklung der Tonleitern nachzuvollziehen. Im Ergebnis lernen wir dann tatsächlich die oben genannten Skalen kennen, aber der Weg ist ein anderer. Hierzu zunächst etwas Prosa und dann ein Schaubild.

Was ich nicht besprechen werde 


Ganztonleiter, Halbton-Ganzton- (HTGT), Ganzton-Halbton- und Verminderte Skala, Chromatische Skala oder Chromatik, Bebop- und Gipsy-Skala sowie Pentatoniken. Über die Bluesskala gibt es ohnehin einen aktuellen Beitrag.

Um es klarzustellen: Mit jeder der oben angeführten Tonreihen wurde jede Menge toller Musik geschrieben oder gespielt und wer Bock auf den jeweiligen Sound hat, möge sich damit befassen.

Aber mir fehlt die Zeit und die Lust dafür, ich habe mit den Skalen, die aus der Durtonleiter enstehen, schon genug zu tun...

Ein Ansatz


Wo kommen sie denn nun her, die kleinen Tonleitern? Genau, es bringt sie – nein, nicht der Storch, die Durtonleiter!

Wie immer legen wir die C-Dur-Tonleiter zugrunde. Wir erforschen ihre Struktur, definieren bestimmte Dinge und verwenden dies dann als Schablone für alle anderen 11 Tonarten.

Zunächst erzeugen wir aus der einen C-Dur-Tonleiter durch Wahl immer neuer Startpunkte die sieben Kirchentonleitern:


Man spricht hier auch von den sieben Modi von C-Dur. Wie die Akkorde sind auch die Kirchentonarten fest einer Stufe der Durtonleiter zugeordnet. Schichten wir also beginnend mit der V. Stufe Terzen, erhalten wir einen Septakkord, spielen wir eine Durtonleiter ab der V. Stufe, erhalten wir eine Dur-Tonleiter (eben Mixolydisch) die eine kleine Septime enthält und wunderbarerweise gut zu Septakkorden passt.

Anmerkung:

Viele Musiker, insbesondere wenn sie aus anderen Genres stammen, machen an dieser Stelle die Kehre, weil der Sinn des Ganzen nicht erkennbar ist. Wenn ich doch über drei Akkorde aus C-Dur Töne aus C-Dur spiele, dann kann ich mir ja das ganze Gedöns sparen, oder?
Verblüffenderweise stimmt dies sogar. Es wird nämlich erst dann interessant und kreativ, wenn ich "gegen die Regeln verstoße", also bewusst (wichtig, sonst ist es einfach falsch) einen anderen Modus über eine Stufe spiele. Zum Beispiel C-Lydisch über einen "freistehenden" Cmaj7 statt C-Ionisch, also G-Dur statt C-Dur über den Cmaj7.

Anmerkung Ende, Klammer zu.

Um bestimmte Akkordfolgen – zum Beispiel Bmin7/b5 - E7 - Amin7 – ordentlich intonieren zu können, wurde die "natürliche Molltonleiter", welche identisch mit der Äolischen Skala ist, leicht modifiziert. In C-Ionisch oder A-Äolisch gibt es nämlich den Akkord E7 nicht, sondern nur Emin7. Die Folge Bmin7/b5 - Emin7 - Amin7 klingt aber schwach, ein Moll-Akkord ist keine gute Dominante. Ändert man also den Ton G in A-Moll-Äolisch zu G#, entsteht eine ähnliche, aber nicht identische Molltonleiter, auf der nun auf der 5. Stufe als Dominante ein Dur7-Akkord (E7) entsteht.


Diese Tonleiter heißt A-Harmonisch-Moll oder A-HM.

Die Harmonisch-Moll-Tonleiter hat für unsere Ohren einen „orientalischen“ Sound. Das liegt an dem drei Halbtöne umfassenden Schritt zwischen VI. und VII. Stufe, einem sogenannten Hiatus. In den oben dargestellten Tabulaturen ist er gut zu sehen. Technisch gesehen ist es eine Äolische (oder natürliche) Molltonleiter mit einer Major-7, A-Äolisch/△7.

Natürlich gibt es auch von der A-Harmonisch-Moll-Tonleiter wie auch bei den uns schon bekannten Durtonleitern wieder sieben Modi. Diese könnte man auch mit ähnlich wohlklingenden Namen wie Ionisch, Dorisch usw. versehen, hat man aber nicht getan, zumindest nicht im deutschen Sprachraum. Statt dessen wird der jeweilige Startton nebst seiner Stufe angegeben, so dass man sich die eigentliche Tonart erst rückwärts herleiten muss. In unserem Beispiel gibt man das Tonmaterial über E7 mit E-HM5 an. Das bedeutet, es ist eine Harmonisch-Moll-Tonleiter (HM) zu spielen, die als 5 ein E notiert hat. Da wir ja schon Erfahrung in der Tonikasuche bei gegebener V haben, ist es offensichtlich, dass hier A-Harmonisch-Moll gemeint ist.

In der vorgestellten Harmonisch-Moll-Tonleiter alterieren wir noch einen weiteren Ton, und zwar auf der VI. Stufe. Dies ist sozusagen eine Korrektur des erwähnten Hiatus. Somit wird gegenüber A-Äolisch-Moll zusätzlich zum G# der Ton F zum F#. Die entstehende Tonleiter heißt A-Melodisch-Moll (oder A-Moll-Melodisch, MM).


Technisch gesehen ist es eine Dorische Molltonleiter mit einer Major-7, A-Dorisch/△7.

Die Modi von Melodisch-Moll


Bei Harmonisch-Moll hatte ich die Modi nur erwähnt und ausschließlich das häufig eingesetzte HM5 genannt. Warum also für die Modi von Melodisch-Moll eine eigene Überschrift? Das liegt daran, dass zwei Modi von MM derart häufig im Jazz vorkommen, dass wir sie eingehend betrachten müssen:
MM4, welcher als Mixolydisch/#11 (gemäß meiner Anmerkungen korrekt Mixolydisch/#4) bezeichnet wird und MM7, die berühmte Alterierte Skala. Beide Skalen sind extreme Spaßkiller und bereiten dem Jazz-Novizen Unbehagen. Sie klingen aus dem Zusammenhang gerissen ziemlich sperrig. Manche finden sie ‚abgefahren‘, ‚modern‘, viele Jazzer gar ‚schön‘. Das ist natürlich – wie so oft – Geschmacksache.


Ich habe Euch nun die Durtonleiter (1. Modus, Ionisch) als Erzeugerskala gezeigt, aus deren 6. Modus (Äolisch) durch Verschiebung eines Tons die Skala Harmonisch-Moll geschaffen wurde. Die zuletzt vorgestellte Melodisch-Moll-Tonleiter entstand wiederum aus Harmonisch Moll.

Ändert man nun in der Skala Harmonisch-Moll die Moll- zur Durterz, erhöht sie also um einen Halbton, so erhält man Harmonisch-Dur, eine Durtonleiter mit einer kleinen Sexte. C-Harmonisch-Dur enthält beispielsweise die Töne C-D-E-F-G-Ab-B-C

Man kann mit der Melodisch-Moll-Skala ebenso verfahren und erhält dann Melodisch-Dur. Wenn wir das an der A-Melodisch-Moll-Skala (A-B-C-D-E-F#-G#-A) durchexerzieren und aus dem C ein C# machen, erhalten wir A-B-C#-D-E-F#-G#-A – eine astreine A-Dur-Tonleiter, A-Ionisch. Die Herkunft aus C-Dur-Ionisch bzw. A-Moll-Äolisch ist dann natürlich nicht mehr erkennbar, Deshalb packe ich bei der Erklärung Melodisch-Dur immer erst am Ende aus.

Als Übersichtsbild stellen sich die vorgestellten Skalen (entwickelt aus C-Dur) wie folgt dar:


Wie Ihr am Beispiel von A-Melodisch-Moll oder auch A-Harmonisch-Dur sehen könnt, versuchen bisweilen Musiker, bei der Benennung bestimmter Modi von Skalen einen Bezug zu den Modi der Durtonleiter herzustellen (die Amis sind hierin unschlagbar). Das machen immer diejenigen, die eine bestimmte Skala häufiger einsetzen oder die einen Modus der Durtonleiter besonders gut geübt haben, so dass ihnen eine Modifikation leichter fällt, als die Herleitung aus z.B. Melodisch-Moll. Das ist wie so oft eine Sache der persönlichen Präferenz.

Ich selbst bin bei der Arbeit am Beitrag biii० erstmalig ernsthaft mit Harmonisch-Dur in Berührung gekommen, weil ich die dort entstehende Skala Mixolydisch/b9 brauchte. Nun habe ich aber mehr Erfahrung mit Harmonisch-Moll als mit Mixolydisch (liegt an der Gipsy-Spielerei), so dass es mir persönlich leichter fällt, eine Harmonisch-Dur-Skala aufs Griffbrett zu werfen, als aus einer regulären Mixolydisch-Tonleiter eine mit kleiner None zu basteln. Aus demselben Grund leite ich mir eine Mixolydisch/#11-Skala immer aus Melodisch-Moll her, nie aus der Mixolydischen. Beide Vorgehensweisen führen zum gleichen Ergebnis, der Weg ist Geschmackssache.

Ich hoffe, dieser Beitrag konnte etwas Klarheit zum Thema "Erzeugerskalen" beitragen. Anmerkungen, Verbesserungen oder Korrekturen gerne in die Kommentare.

Euer

Gige

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen