Sonntag, 30. Dezember 2018

biii0

Liebe Leser,

was ist denn das nun wieder? biii०? Es geht – nicht zum ersten Mal – um verminderte (diminished, dim, ०) Akkorde bzw. um den Umgang mit selbigen. Und der ist nicht trivial. Wie schon an anderer Stelle (zum Beispiel in meiner Harmonielehre) geschrieben, ist jede Verallgemeinerung zu vermeiden. Wichtig ist nämlich primär nicht die Frage "Was spiele ich über diesen verminderten Akkord?", sondern "Welche Funktion hat er an dieser Stelle?"

Ich bin der festen Überzeugung, dass die Suche nach geeignetem Tonmaterial für das Spiel über einen Akkord wesentlich vereinfacht wird, wenn dessen harmonische Funktion im Song bzw. in der betreffenden Passage festgestellt (oder zumindest erahnt) wurde.

Festzuhalten ist immerhin, dass viele verminderte Akkorde als Umkehrung von 7b9-Akkorden zum Einsatz kommen. Auf dem Griffbrett einer Gitarre ist dies leicht zu erkennen:


Noch ein Allgemeinplätzchen: Es gibt keine "richtige" Skala, die über jeden verminderten Akkord passt (auch nicht die sogenannte "Verminderte Skala", welche aus der Ganzton-Halbton- oder Halbton-Ganzton-Skala hervorgeht).

In diesem Beitrag geht es um einen dim-Akkord in der Entfernung einer kleinen Terz aufwärts von der Tonika, in Stufenschreibweise (über welche ich noch einen eigenen Beitrag in "Basics" schreiben werde) um einen biii०.

Und bei der Recherche im Internet packte mich an dieser Stelle zum wiederholten Mal der Zorn, da diese Positionsangabe gerne als "Analyse" verkauft wird. Aber die Information, wo sich ein Akkord befindet, ist nur in wenigen Fällen selbsterklärend. Vielleicht im Fall iv-7, da die "vermollte Subdominante" schon zum Allgemeinwissen in der Harmonielehre gezählt werden kann und das Wissen um diese konkrete Funktion auch die für ein Solo eingängigste Skala enthält (Dorisch, zur Information).

Aber bei einem biii० ist die Sache so klar nicht. Wir finden solche Akkorde zum Beispiel im Turnaround von "All of me":

... / C6 Ebdim / Dmin7 G7 /

oder (berühmt-berüchtigt) in "Corcovado":

/ Amin6 / % / Abdim / % / Gmin7 / C7 / Fmaj7 / % / ...

Von der harmonischen Wirkung treibt der ominöse Abdim vom Amin zum Gmin, was aber vor allem am Basston (chromatisch fallende Linie), nicht an den Akkordtönen liegt. Denn es ist keine V/ii, also ein Substitut für D7, dies wäre Ab7/#11 oder zumindest ein Ab-(Dur)-Septakkord. Abdim hat dagegen eine Mollterz.

Die Funktion einer biii०


V/iii


Die häufigste Deutung für den Akkord Abdim ist E7/b9 /G# (hier G# statt Ab, weil es die Terz des aus einer Kreuztonart stammenden Septakkords im Bass ist). Seine Funktion wäre somit V/iii, also eine Zwischendominante zur 3. Stufe, im konkreten Beispiel E7 Richtung Amin (die iii in F-Dur).

Die bevorzugte Skala für ein Solo ist in diesem Fall meines Erachtens E-HM5, also A-Harmonisch-Moll.

V/V (Variante A)


In der "Harmonielehre für Gitarre" breite ich eine andere Idee aus, die aus einer "gitarristischen" Sichtweise der ganzen Sequenz resultiert. Ich unterstelle dem Komponisten Jobim folgende Akkorde:


Da hier in der Mitte dargestellte Db7/b9 /Ab arbeitet somit als Tritonussubstitut für ein G7, mit der Funktion V/V, also G7 als Dominate Richtung C7. Die Dominante der Dominante nennt man Doppeldominante.

Als Skala über Abdim plädiere ich in dieser Variante für Db-Alteriert (= D-Melodisch-Moll = G-Mixolydisch/#11), was ich mir vom berühmten Stan Getz abgehört habe. Es ist nur ein Ton seines Solos (ein C#), welcher aber nur wie oben angeführt zu erklären ist.

V/V (Variante B)


Bei einer langen Autofahrt kam mir eine weitere Idee in den Sinn. Ich bin mit den bisherigen Feststellungen nicht zufrieden. Mit der V/iii nicht, weil sie grundsätzlich zur Erklärung herhalten muss und den Drang zur ii nur unzureichend impliziert und mit meiner V/V (A) auch nicht, weil er dem G7/b9 eine #11 verpasst, die eben nur Stan Getz wirklich zum Klingen bringt. Aber...


Ein G7/b9 IST ein Abdim. Somit ist der zweite Akkord der Strophe von "Corcovado" eine Doppeldominante zur Tonika Fmaj7, ganz ohne den Umweg über irgendwelche Tritonussubstitute. Und die Folge II7 (V/V) - ii - V - I finden wir häufig. Sofort darf ich "All of me" zitieren, die letzten vier Takte des A-Teils:

/ D7 / D7 / Dmin7 / G7 /
/ C6 / ...

Üblicherweise spielt man über eine Doppeldominante, welcher ja per se zu einem weiteren Dur-Septakkord führt, Mixolydisch. HM5 (in unserem Fall aus C-Harmonisch-Moll), eine zumeist passende Option für Dominanten (vor allem dann allerdings, wenn sie zu einer Molltonika führen), klingt hier in "Corcovado" sehr weit "out". Das liegt daran, dass in C-Moll eben ein Eb vorkommt, während der gesamte Sound des Songs in dem Wechsel der Melodie zwischen E und D liegt. Wir benötigen aber eine Skala, die diesen Akkord bedienen könnte:


Mixolydisch/b9 wäre die passende Skala für diesen Akkord (und auch für unser Abdim).

Ihr könnt nun eine Mixolydische Skala nehmen und jede 9 zur b9 machen, also im obigen Beispiel G-Mixolydisch durch Erniedrigung jedes A zum Ab.


Das ist eine C-(Ionisch)-Dur-Tonleiter (die ist ja identisch mit G-Mixolydisch) mit einer kleinen Sexte b6. Das nennt man übrigens auch C-Harmonisch-Dur. Diese (zugegebenermaßen) seltene Skala kann man auch konstruieren, wenn man in einer C-Harmonisch-Moll-Tonleiter die kleine Terz zur großen macht, also jedes Eb zum E:


Die Beschränkung auf fünf Bünde pro Diagramm verhindert leider eine übereinanderliegende Darstellung, aber wenn Ihr die Töne nachprüft, werdet Ihr sehen, es stimmt.

C-Harmonisch-Dur hat dasselbe Tonmaterial wie G-Mixolydisch/b9 und ist für den Akkord Abdim – die ominöse biii० – in "Corcovado" die richtige Wahl!

Der Gitarrist Peter O'Mara hat uns in einem Workshop einmal den Hinweis gegeben, dass der zweite Akkord in der Strophe des Standards "Wave"

/ Dmaj7 / Bbdim / Amin / D7 / ...

eine der seltenen Einsatzmöglichkeiten der Harmonisch-Dur-Skala (hier: D-Dur-Harmonisch) wäre. Jetzt kennt Ihr schon eine weitere.

Viel Spaß mit "Corcovado" – und anderen Songs, in denen Ihr einen verminderten Akkord auf der kleinen Terz zur Tonika entdeckt.

Euer

Gige

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