Dienstag, 1. Januar 2019

Stufentheorie

Liebe Leser,

für die Analyse von Musikstücken und natürlich insbesondere von Jazzstandards benötigen wir neben der Akkordsymbolschrift noch eine weitere Symbolschrift (sorry wegen der Wiederholung, aber das ist schlecht anders zu lösen), mit der wir harmonische Zusammenhänge innerhalb eines Songs möglichst knapp aber eindeutig darstellen können. Ich möchte Euch in diesem Beitrag eine etwas modifizierte Stufen-Schreibweise aus der klassischen Stufentheorie vorstellen, welche ich regelmäßig bei der Song-Analyse einsetze.


Ich weiß, dass einige von Euch Pickel bekommen, wenn sie nur ein Stufensymbol erblicken. Aber das hat wirklich seine Vorteile. Lasst es mich wenigstens versuchen. Weiter im Text:

Leitereigene Akkorde


Aus der C-Dur-Tonleiter konnten durch Terzschichtung ("Terzentürmen") die Akkorde der Tonart C-Dur hergeleitet werden (natürlich wieder ein eigener Beitrag), welche eine Schablone für alle anderen Durtonarten bilden. Folgendes Schema (welches Ihr unbedingt auswendig kennen solltet) entsteht dabei:


Für die Stufen 1 bis 7 hat sich die Schreibweise in römischen Ziffern durchgesetzt, wobei im angelsächsischen Sprachraum Dur-Akkorde in Groß-, Moll-Akkorde in Kleinschrift geschrieben werden. Das habe ich übernommen. Wer ausschließlich Großschreibung verwendet, muss ein "-" für Moll einsetzen.

Eine private Modifikation meinerseits ist es, dass ich die eigentlich für Dreiklänge angelegte Schreibweise grundsätzlich als Vierklang ansehe, sofern am Originalakkord nichts verändert wurde. Die jeweilige Septime (klein oder groß) und auch die verminderte Quinte bei Stufe vii notiere ich nicht, wenn es sich um unveränderte Akkorde der Stufen I bis vii handelt. Darum ist es so wichtig, sich die Akkorde der einzelnen Stufen einzuprägen, samt ihrer Septimen!

Findet Ihr also II-7, ii-7 (wobei das Moll hier redundant vermerkt ist) oder ii7, so bedeutet dies stets einen Moll-7-Akkord auf der zweiten Stufe. Da dieser ohnehin üblicherweise dort steht (siehe Tabelle), schreibe ich nur ii.

Wobei ich hier gerne etwas nachgebe (dieser Einwurf stammt vom 03.03.2019) und inzwischen einfach der Deutlichkeit wegen Mollakkorde bisweilen mit einem Minus versehe, also ii-7.

Innerhalb einer Tonart ist es nun ganz leicht, mit wenigen Zahlen einen harmonischen "Bauplan" des Songs oder der Passage zu notieren.

Beispiel A-Teil "Blue Moon" (vereinfacht)

/ I vi / ii V / I vi / ii V /
/ I vi / ii V / I IV / I V /

Nun setzen wir einfach die Akkorde der jeweiligen Stufe ein, zum Beispiel die der Originaltonart Eb-Dur:

/ Ebmaj7 Cmin7 / Fmin7 Bb7 / Ebmaj7 Cmin7 / Fmin7 Bb7 /
/ Ebmaj7 Cmin7 / Fmin7 Bb7 / Ebmaj7 Abmaj7 / Ebmaj7 Bb7 /

Oder wir transponieren nach C-Dur:

/ Cmaj7 Amin7 / Dmin7 G7 / Cmaj7 Amin7 / Dmin7 G7 /
/ Cmaj7 Amin7 / Dmin7 G7 / Cmaj7 Fmaj7 / Cmaj7 G7 /

Leiterfremde Erweiterungen, Funktionen


Nun kämen ja alle Jazzstandards recht trist und einfältig daher, wenn ausschließlich leitereigene Akkorde der immergleichen Tonart zum Einsatz kämen. Das nennt man dann "deutscher Schlager". Ändert der Komponist Tongeschlecht oder Erweiterung eines Akkords, was ja nicht nur sein gutes Recht sondern geradezu seine Pflicht ist, so ist das leicht zu notieren. Als Beispiel für eine Notation in Stufen soll zum wiederholte Mal "All of me" dienen. Hier das Sheet, welches nur zu Analysezwecken hier abgebildet ist:


Nun die Schreibweise in Stufen, wobei dies im Moment nur Positionsangaben sind, keine harmonischen Analysen:


Immerhin ist es an dieser Stelle auch für unerfahrenere Kollegen schon möglich, den Song in einer beliebigen Tonart zu intonieren. Allerdings können wir anhand der obigen Beschreibung der Akkorde – mehr ist es ja nicht – die jeweilige Funktion nur aus Erfahrung bestimmen (und damit das Tonmaterial für ein Solo eingrenzen). Manch Schreiber notiert auch etwas mehr:


In Klammern ist hier die Funktion des jeweiligen Akkords nach Meinung des Schreibers notiert. Die Funktion stellt den Zusammenhang des Akkords mit der "Umgebung", also dem aktuellen Ausschnitt des Songs dar. Dies ist nur explizit erforderlich, wenn es sich nicht ohnehin um eine der sieben Stufen der aktuellen Tonart handelt. Eine V. Stufe ist grundsätzlich eine Dominante zur I. Stufe (zur sogenannten Tonika), das wird üblicherweise nicht angegeben.

Ein Grenzfall liegt in Takt 26 vor. Das dort angegebene iv beschreibt die IV. Stufe, normalerweise ein Dur-maj7-Akkord als Moll-Akkord, im aktuellen Song in C-Dur somit ein Fmin. Die IV. Stufe, die Subdominante, als Moll- oder auch Moll7- bzw. Moll6-Akkord ist als sogenannte Vermollte Subdominante eine so verbreitete Funktion, dass sie ohne weitere Angabe als iv notiert wird.

In Takt 3 finden wir III7 (V/vi). Hier ist hinter der Akkordbeschreibung (ein Dur7-Akkord im Abstand einer Großterz von der Tonika I, wo wir üblicherweise einen Moll7-Akkord finden) in Klammern die Funktion V/vi geschrieben. Eine Dominante auf die vi. Stufe, die, da sie ja nicht Dominante zur Tonika ist, als Zwischendominante bezeichnet wird. Wir verlassen in der Verweildauer dieses Akkords die Originaltonart und denken temporär die vi als i und somit den betreffenden Akkord als Dominante Richtung Moll-Tonika.

Der biii० in Takt 31 ist ein eigener Beitrag → gewidmet.

Während ich dies schreibe, wird mir klar, dass ich über Funktionen und deren Handling unbedingt einen eigenen Artikel schreiben muss... das bringe ich hier nicht alles unter.

Zusammengefasst bildet die Stufenschreibweise eine durchaus brauchbare Möglichkeit, die Begleitung eines Songs unabhängig von seiner Tonart schriftlich festzuhalten und mittels zusätzlicher Angaben auch noch Hinweise zu harmonischen Funktionen zu geben. Erfahrene Musiker können schon aus der reinen Stufen- und Akkord-Typ-Angabe Tonmaterial für Soli ableiten, da sie die implizierten Funktionen und den Umgang damit kennen (siehe iv Vermollte Subdominante), Einsteiger müssen sich mühsam durchbeissen und sind oft von der Angabe so vieler Symbole überfordert.

Grenzen der Stufen-Schreibweise


Der gesamte Song "All of me" spielt sich prinzipiell in einer Tonart ab. Auftretende harmonische Funktionen wie Zwischendominanten oder auch die Vermollte Subdominante können immer mit Stufen der Ausgangstonart in Verbindung gebracht werden. Wechselt allerdings die Tonart (entweder durch Modal Interchange oder Modulation – ok, auch das ist in einem eigenen Beitrag zu erklären), so wird ein System, welches auf relative Bezüge fußt, schnell unübersichtlich. Ein gutes Beispiel hierfür wäre der Song "Lady Bird" von Tadd Dameron. Ein Auszug:

/ Cmaj7 / Cmaj7 / Bbmin7 / Eb7 /
/ Abmaj7 / Abmaj7 / Amin7 / D7 / ...

Dass die Takte 3 bis 6 eine ii - V - I in Ab darstellen, werden die meisten erkennen. Wie aber kann hier ein harmonischer Bezug zu C-Dur symbolisiert werden. Die Position eines Bbmin7 zu Cmaj7 ist b7, man fände also den Akkord mit der Angabe bvii7 (oder auch bVII-7). Ein Hinweis auf seine Funktion als ii in Ab müsste dann in Klammern erfolgen, etwa (ii/bVI△7), summa summarum:

bvii7 (ii/bVI△7)

Übersetzung: Ein Moll7-Akkord auf Position b7, der als zweite Stufe zu einer Maj7-Tonika fungiert, die an Position b6 zur (eigentlichen) Tonika steht... nicht wirklich eingängig. Aber wiederum tatsächlich unabhängig von konkreten Tonart-Angaben.

In der Praxis wird man dann auf dem Sheet die Tonart angeben und die Stufenzahlen in der aktuellen Tonart notieren, so dass man nicht ständig einen Wust an Bezügen mitschleppen muss.

In der Analyse von "Cry me a River" habe ich mal versucht, die Stufenschreibweise auf einen Song anzuwenden, bei dem im B-Teil die Tonart wechselt.

Fazit


Ich hoffe, Euer Interesse an der Stufenschreibweise ist geweckt und Ihr könnt jetzt einfache harmonische Zusammenhänge auch anhand dieser etwas abstrakten Darstellung erkennen. Wichtig ist vor allem, dass Ihr die sieben Stufen der Durtonleiter samt ihrer Akkordtypen wirklich gut beherrscht, sowohl in der Theorie wie auch in der Praxis auf dem Instrument.

Viel Spaß mit den Stufen,

Euer

Gige

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