Freitag, 8. Februar 2019

Mehr Verminderte - Easy Living

Liebe Leser,

hier mal ein Standard, den ich schon fast 30 Jahre spielen können müsste, denn er wurde mir schon in Stunde 2 meines (Jazz-)Gitarrenunterrichts von meinem Lehrer vorgelegt. "Easy Living" wurde 1937 veröffentlicht und stammt vom Komponisten Ralph Rainger.


Obwohl ich den Titel schon lange kenne und auch in den vielen Jahren immer wieder gespielt hatte, habe ich ihn niemals in Ruhe analysiert. Dabei gibt es allerhand dort zu entdecken. Nun denn, hier also das Sheet aus dem RB5, welches hier nur zu Analysezwecken abgebildet ist:


Ich trage zunächst die offensichtlich diatonischen Stufen in das Sheet ein, dann soll es zu den Details gehen.


Anmerkungen zu den diatonischen Stufen:


Takt 3: Fmaj7/A und Amin7 sind nahezu identisch. Der Ton F kommt an dieser Stelle nicht in der Melodie vor und Amin7 als Akkord ist praxiserprobt, so dass man hier durchaus iii statt I schreiben kann.

Takt 23 (Rückwechsel nach F-Dur): Die b5 zu Gmin7 mag schön oder spannend klingen, eine "Farbe" eben, funktionsharmonisch (und auch im Spiel) ist sie unnötig. Ich erlaube mir, sie zu ignorieren und notiere eine blanke ii.

Weiterführendes


Takte 1 und 2: / Fmaj7 F#०7 / Gmin7 G#०7 /
Nach der Tonika einen Halbton höher ein Verminderter, also ein bii०. Dieser Akkord ist meiner Erfahrung nach stets eine Umkehrung einer VI7 (die vi. Stufe Dmin7 als Septakkord, in unserem Fall als die Umkehrung eines D7) und arbeitet als V/ii, also als Zwischendominante zur ii. Stufe (Gmin7), welche ja auch tatsächlich im Folgenden eintritt.

Im Takt 2 folgt nach dem Gmin7 wiederum eine verminderter Akkord einen Halbton höher. Über diesen biii० habe ich bereits ausführlich geschrieben →

Im aktuellen Song allerdings kommt im folgenden Takt 3 eine iii. Stufe, oder zumindest etwas Ähnliches. Von daher ist eine Interpretation als V/iii logisch, in unserem Fall also eine Deutung des G#०7 als Umkehrung eines E7/b9.

Takt 3: Nach der iii arbeiten die Akkorde Cmin7 und F7 als ii/IV - V/IV und führen zur Subdominante S (IV - Bbmaj7) in Takt 4. Ob man diesen Akkord dann letztendlich als IV spielt, also Bb-Lydisch (=F-Dur) oder als neue (Zwischen-)Tonika Bb-Ionisch (=Bb-Dur) ist tatsächlich Ermessenssache. Persönlich präferiere ich Variante 2, da mir eine ii-V-Einleitung sozusagen den Tonraum vorgibt. Da allerdings viele Musiker jeden maj7-Akkord prinzipiell Lydisch spielen, ist dies meine unmaßgebliche Privatmeinung.

Takt 4: In der zweiten Hälfte des Takt 4 folgt nach der S die sS, die sogenannte Doppelmollsubdominante (engl. Backdoor-Five oder Backdoor-V). Wahrscheinlich wird dieses Thema demnächst ein eigener Beitrag. Ich muss etwas ausholen:

Tritt die IV. Stufe als Mollakkord auf (was dann als iv oder iv-7 geschrieben wird), so spricht man bei diesem Akkord von einer Vermollten Subdominante. Eine Folge Subdominante - Tonika wird als plagaler Schluss (oder Plagalschluss) bezeichnet, zum Beispiel Fmaj7 - Cmaj7. Die Folge Subdominante - Vermollte Subdominante - Tonika ist also die Erweiterung eines plagalen Schlusses: Fmaj7 - Fmin7 - Cmaj7. Häufig kommt auch Fmin6 zum Einsatz, da die Sexte des Fmin im Gegensatz zur kleinen Septime Eb in der Tonika-Tonart C-Dur enthalten ist.

Die Vermollung einer Haupt- oder Nebenstufe und damit die Vermollte Subdominante gibt es schon in der Funktionstheorie von Hugo Riemann (1893). Ich ziehe für mich persönlich die Herleitung aus dem System des "Modal Interchange (MI)" (Leihakkorde aus Tonleitern mit gleichem Grundton - das wird wie so vieles an anderer Stelle besprochen werden) vor. Die Vermollte Subdominante ist aus der gleichnamigen Äolischen Molltonart entliehen und steht dort auf der ii. Stufe. Also:

Tonart des Abschnitts: C-Dur, Subdominante Fmaj7

Gleichnamige Äolische Molltonleiter: C-Moll = Eb-Dur. Stufe ii = Fmin7 (die Vermollte Subdominante in C-Dur)

Anwendung auf "Easy Living":

Tonart: F-Dur, Subdominante Bbmaj7 (daher Vermollte Subdominante Bbmin7 oder Bbmin6)

Herleitung aus dem MI: Gleichnamige Äolische Molltonleiter: F-Moll = Ab-Dur. Stufe ii = Bbmin7 (die Vermollte Subdominante in F-Dur - siehe oben)

Geduld, ich komme jetzt zum Punkt! Eine ii und eine V sind als starke Verbindung auch klanglich durchaus ähnlich. Nicht zu selten wird einem Dominantseptakkord eine ii. Stufe vorangestellt, ohne dass der klangliche Eindruck wesentlich verändert wird. Also statt / G7 / G7 / finden wir / Dmin7 / G7 /. Anders herum funktioniert das genauso. Statt / Dmin7 / Dmin7 / eben / Dmin7 / G7 /.

Auf der Gitarre wird dies angesichts der jeweiligen Griffe offensichtlich:


In unserem Song bildet der Akkord Bbmin7 die Vermollte Subdominante zu Fmaj7, ist aber ebenso die ii in Ab. Die zugehörige V ist Eb7, welcher in "Easy Living" in der zweiten Hälfte des Takt 4 die Vermollte Subdominante vertritt. Diesen Septakkord nennt man dann Doppelmollsubdominante. Er ist als Dominantseptakkord einen Ganzton unter bzw. eine kleine Septime über der Tonika zu finden.

In der Klassik bzw. einer reinen Dreiklang-Welt ist die Sache nicht so eindeutig, weshalb ich eben das Modell des MI heranziehe. Denn ein Dur-Dreiklang statt des Septakkords kann auch eine Doppelsubdominante sein. Beispiel in C-Dur: Tonika C-Dur, Subdominante F-Dur, Subdominante der Subdominante Bb-Dur. Im Jazz ist das eindeutiger: Cmaj7 - Bbmaj7 = Tonika - Doppelsubdominante (Songbeispiel: "Dindi"); dagegen: Cmaj7 - Bb7 = Tonika - Doppelmollsubdominante (Songbeispiel - schnell aus den Fingern gesaugt und nicht ganz korrekt: "Yardbird Suite")

Takt 7 und 8: Das war tatsächlich mal eine 1625, also ganz ursprünglich die Folge / Fmaj7 Dmin7 / Gmin7 C7 /. Aber wer schon einmal viele, viele Durchgänge 1625er als Begleiter zu endlosen Soli spielen musste, wird auch diese Variante entdeckt haben. Übrigens sind auch alle quintfälligen Septakkordfolgen im Mittelteil der unzähligen "I Got Rhythm"-Klone auf dieselbe Weise entstanden: 

In der zugrundeliegenden 1625 ersetzen wir zunächst die I durch den Tonika-Gegenklang, die Stufe iii, Amin. Ändert man nun die vi zu VI7 ergibt dies die nicht zu seltene Version

/ Amin7 D7 / Gmin7 C7 /

welche ebenso häufig als Rückung einer ii-V-Verbindung gespielt wird, was aber meines Erachtens nicht die erste Wahl sein sollte, siehe den Beitrag hier →

(Anmerkung: Diese Akkordfolge ist übrigens nicht zu selten in anderen Sheets von "Easy Living" notiert, zum Beispiel im iRealBook bzw. FakebookPro, so dass wir die folgenden Zeilen über die Variante mit allen vier Akkorden als Septakkorde eher als "Serviervorschlag" denn als Anweisung des Komponisten betrachten sollten.)

Macht man nun aus den verbliebenen Mollakkorden Dominantseptakkorde, so erhalten wir schon fast die in Takt 7 und 8 notierten. 

Was soll man nun von den beiden + beim A+7 bzw. G+7 halten? Wie schon im Blog an anderer Stelle → beschrieben sind damit Übermäßige Akkorde gemeint. Aus meiner Erfahrung handelt es sich bei einem A+7 zumeist um einen regulären A7-Akkord, welcher mit der b13 erweitert ist (A7/b13) und nicht um einen mit einer übermäßigen Quinte im Bass. Analog beim G+7: G7/b13.

Wie in unzähligen anderen Songs dienen auch hier Takt 7 und 8 mit einer I-vi-ii-V oder der gerne gespielten Variante iii-V/ii-ii-V der Rückkehr zur Tonika (in der A-Teil-Wiederholung). Wegen des sehr häufigen Einsatzes der Folge sind daher stets alle Variationen zulässig und es muss sich nicht so streng an jede notierte Akkorderweiterung gehalten werden.

Alle folgenden Funktionen sind trivial oder bereits besprochen, bis auf den Turnaround in Takt 31 und 32, welcher übrigens in anderen Notationen eine triviale 1625 ist. Hier sind in unserem Sheet jedoch zwei MI-Akkorde eingefügt (aus der MI-Tonart F-Phrygisch = Db-Dur), die wunderbar klingen. Nach der Tonika F-Dur oder Fmaj7 kommt Ab7, der zugleich einen D7-Ersatz (haben wir im Song als V/ii ja schon kennengelernt) bildet (Tritonus-vertauscht) aber eben auch die V in der MI-Tonart Db bildet, die wir ja auch bereits im B-Teil gehört hatten. Nach der I Dbmaj7 geht es über die V (nun wieder aus F-Dur) C7 nach Hause.

Wer diesen MI-Sound gerne noch etwas mehr strapazieren möchte, ersetze das C7 im Takt 32 durch Gbmaj7, das klingt auch fein. Vorzugsweise, wenn man einen Ton über alle vier Akkorde liegen lässt (hier das C auf der H-Saite):


Das F liegen lassen ist auch cool, aber die Folge könnt Ihr Euch gerne selbst zusammensuchen.

Nun da alle Klarheiten beseitigt sind, erlaube ich mir, für die Wackeren, die bis an diese Stelle durchgehalten haben, das Sheet mit allen eingetragenen Funktionen abzubilden:



Skalen (Vorschlag):


Nun hatte ich überlegt, in das Sheet zu jedem Akkord eine Skala einzutragen. Aber dies ist zum Einen mühselig (für mich) und bietet keinen Lernerfolg (für Euch). Zudem hat es immer den Geschmack von richtig oder falsch, Kriterien die so im Jazz nur bedingt angewendet werden können. Eigentlich geben uns die festgestellten Funktionen der Akkorde schon einigermaßen den Weg vor, den wir im Solo beschreiten können.

Wollen wir es für die etwas Unerfahreneren so halten: 

  • Über alle unveränderten Stufen spielt man für den Anfang eben die Tonart, aus der die jeweiligen Akkorde stammen. Im Fall der ii-V auf die IV auch samt der IV alle in Bb-Dur.
  • Bei den V/ii oder auch V/iii spiele ich die Harmonisch-Moll-Tonleiter des Ziels. Also: F#०7 ist eine Umkehrung eines D7 und zielt als V nach Gmin. Ich spiele also D-HM5 = G-Harmonisch-Moll. Analog über G#०7 = E7 demzufolge E-HM5 = A-Harmonisch-Moll.
  • Die Doppelmollsubdominante Eb wird (wie übrigens auch eine Vermollte Subdominante) mit der Tonleiter bespielt, aus der sie stammt. Daher Eb-Mixolydisch = Ab-Dur. Für Fortgeschrittene auch Eb-Mixolydisch/#11 = Bb-Melodisch-Moll.
  • Mit dem Spiel über die quintfälligen Septakkorde in Takt 7 und 8 kann man sich ein Leben lang beschäftigen. Vorschlag für den Anfang: / A-Alteriert D-Mixolydisch / G-Alteriert C-Mixolydisch /


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Puh. Alles klar? Erst mal sacken lassen. Ich wünsche Euch viel Spaß mit "Easy Living". Korrekturen, Ideen und Vorschläge gerne in die Kommentare oder direkt per PM an mich.

Keep on Jazzin'

Euer

Gige

2 Kommentare:

  1. Puh - das ist eine ganze Menge an Information, wirklich gründlich. Da muss ich noch mehrmals nachlesen und spielen. Vielleicht eine kurze Anmerkung zum Quintfall in Takt 7 und 8. Die b13 bzw 9 bilden zusammen eine schöne chromatisch fallende Linie von F nach D, was bei Verwendung im Solo dem ganzen eine besonders bluesige Note gibt.

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  2. Lieber Meh-jazzed-x, stimmt! Ist mir vor lauter Gedudel an der besagten Stelle gar nicht aufgefallen. Durch die notierten Erweiterungen ergibt sich die wohlklingende Line quasi von selbst. Hin und wieder sollte ich vielleicht einfach mal spielen, was auf dem Sheet steht...

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