Dienstag, 5. März 2019

IV0 - ganz was Neues

Liebe Leser,

mal wieder ein Verminderter. Der lief mir in dem schönen Song "The Nearness of You" von Hoagy Carmichael aus dem Jahr 1937 über den Weg. Das ist jetzt wieder mal ein willkommener Anlass, wirklich lange über einen Akkord (letztendlich sogar nur über einen einzigen Ton) zu philosophieren. Aber genau dafür wurde dieser Blog ins Leben gerufen.


Hier schon mal der Song in einem Sheet aus den "557 Standards", welches hier nur zu Analysezwecken abgebildet ist:


Unser Kandidat ist rot markiert (hättet Ihr wahrscheinlich auch so bemerkt). Ich habe Verminderte an den Stellen bii und biii vorgestellt, aber hier steht der Akkord auf der IV. Was ist das denn nun wieder?

Und so albern Euch das erscheinen mag - überprüft zunächst, wie der notierte Akkord klingt. Nicht zu selten sind einzelne Details bestimmter Sheets wenn nicht falsch, dann zumindest zweite Wahl. Ich selbst habe mir schon vor einiger Zeit ein kleines Fingerstyle-Arrangement von "The Nearness of You" gebastelt, wobei ich bei dieser Gelegenheit dann umgehend die Plausibilität solcher Akkorde prüfe. Ja, er klingt gut. Und er ist auch zum Beispiel im Fakebook Pro (der kostenfreien Android-Alternative zu iReal Pro, welches ich inzwischen auch erworben habe – weil es besser ist) so notiert.

Doch obwohl mir der Song inzwischen wirklich vertraut ist, hatte ich in Takt 4 eben bei dem ominösen Bb० so meine Bedenken. Wie Ihr wisst, halte ich die Funktion eines Akkords für seine essentielle Eigenschaft. Zudem man nach der Entdeckung derselben bei der Improvisation weniger nachdenken, da sich die jeweilige Skala aus der Funktion erschließt.

Ein Mitmusiker - seines Zeichens Saxophonist - bemerkte, die Stelle klänge "nach Moll", was ich anfangs genauso sah. Das ist gar nicht so trivial, wie es auf den ersten Blick erscheint, denn obwohl verminderte Akkorde aus kleinen Terzen aufgebaut sind, arbeiten sie doch zumeist als Vertreter oder Umkehrungen von Dominantseptakkorden.

Nun, dann wird die Sache wieder einfach. Moll-Akkord an Position IV? Hier kennen wir genau eine harmonische Funktion, welche es dann wohl auch sein wird: Die vermollte Subdominante!

Ein Bbmin6 plus den in der Melodie geschriebenen Ton E ergibt den Akkord Bmin6/#11, welcher baugleich mit einem Bb० ist:


Spielt man als Begleiter in Takt 4 die Akkorde Bbmin6 und Eb7/9, also funktional Vermollte Subdominante plus Doppelmollsubdominante, so klingt dies ganz wunderbar und schlüssig. Wie aber soll das von Carmichael in die Melodie geschriebene E berücksichtigt werden? Es ergibt entweder den ursprünglichen Bb०, was ja keine neue Erkenntnis ist, oder ein Eb7/b9 (für die Doppelmollsubdominante), was einfach nicht besonders gut klingt.

Zudem muss eine passende Skala erst gebastelt werden. Die zum Thema passenden Bb-Dorisch oder Bb-Melodisch-Moll enthalten das E gerade nicht. Das wäre zum Beispiel in Dorisch/#11 enthalten. Als ich hierüber etwas nachdachte, stellte ich fest, dass ich das Rad schon wieder erfunden hatte. Bb-Dorisch/#11 = Eb-Mixolydisch/b9 = Ab-Harmonisch-Dur. Das hatte ich für Verminderte im Abstand biii von der Tonika bereits in diesem Beitrag → herausgefunden.

Und ja, verschiebt man den Bb० um eine kleine Terz nach oben (Db०) dann ist er tatsächlich ein biii० bezüglich der (Zwischen-)Tonika Bbmaj7. Ab-Harmonisch-Dur über den Bb० klingt nicht einmal übel, aber es zündet nicht. Ok, wir suchen weiter.

Die bisweilen notierte Alternative für Takt 4 / Bmin7/b5 E7 / ist zwar funktional sinnvoll (ii-V auf die iii), klingt aber nach dem Bbmaj7 einfach nicht rund.

Was meines Erachtens am besten funktioniert, ist die Folge (Takt 4) / Bb० A7 / was den Bb० als A7/b9 und von der Funktion als V/vi (s. a. Takt 3 "All Of Me") interpretiert. Die Skala ist in diesem Fall einfach A-HM5 (D-Harmonisch-Moll), was im Zusammenhang auch gut klingt.

Ansonsten ist der Song nicht zu anspruchsvoll. Der schlimmste Stolperstein ist meines Erachtens, dass der letzte A-Teil 12 statt 8 Takte hat. Hoagy Carmichael hängt also mal 4 dran... weil er es darf.

Wie ist Eure Meinung zum ominösen Bb०? iv-7 oder V/iii? Gibt es eine "Wahrheit" oder ist es wie so oft Geschmackssache? Schreibt mir Korrekturen und Anregungen in die Kommentare.

Euer

Gige

1 Kommentar:

  1. Hier Anmerkungen eines Lesers, bei dem die Kommentarfunktion gezickt hatte. Ich helfe gerne aus. Hier der Text unkommentiert:

    Bbmin6#11 kann auch aus F HM hergeleitet werden, genauso wie der folgende Bbmin7 (die IV. Stufe von F HM) - zugegebenermassen eine eher moderne Interpretation die aber auch mit der Melodie vereinbar ist

    Bbdim ist auch die VII. Stufe von B HM und kann damit als Substitution für B-∆11 gelesen werden. Das funktioniert zumindest in der ersten Takthälfte nicht schlecht und hat den Zusatzbonus einer längeren chromatischen Bassline von B nach G. Für ein Solo-Arrangement sicher eine gute Alternative.

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