Dienstag, 25. Dezember 2018

Cry Me A River - mein Erzfeind: Stufen!

Liebe Leser,

noch ein Post vor Silvester. Soll ja keiner sagen, ich gäbe mir keine Mühe!

Am vorletzten Freitag war es wieder einmal soweit. Der Klassiker "Cry Me A River" von Arthur Hamilton aus dem Jahr 1953 wurde wieder einmal auf einer Sessionbühne dahingeschlachtet. Und das nicht zum ersten Mal! Das wirklich sehr schöne Lied wird in höchster Regelmäßigkeit bei den unzähligen Darbietungen gemeuchelt und dabei bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Genug der unappetitlichen Beschreibungen!


Es ist eben nicht genug, wenn man einen Song "schon mal gehört hat" oder "einigermaßen kennt".

Schauen wir uns "Cry Me A River" mal etwas genauer an. Vielleicht kann ich Euch dann ja auch ein Verfahren näherbringen, mit dem Songs auf relativ einfache Weise erlernt und daraufhin mit wenig Aufwand transponiert werden können.

"Cry Me A River" ist ganz gut zur Demonstration geeignet, denn schon an den zugrunde liegenden Sheets scheiden sich die Geister. Hier eine Version aus dem Realbook V/3, welche nur zu Analysezwecken hier abgedruckt ist:



Zum Erlernen funktioniert o.a. Sheet schon ganz ordentlich, für ein harmonisches Verständnis sind die Changes allerdings etwas zu kompliziert. Lasst uns eine zweite Meinung einholen. Hier die Akkorde aus dem populären iRealPro:


Besser, aber noch nicht so einfach, wie es sein könnte. Versteht mich nicht falsch! Ihr dürft jeden Song so komplex und verziert spielen, wie Ihr möchtet. Aber für ein gemeinsames Musizieren ohne Probe ist der kleinste gemeinsame Nenner einer Komposition gerade richtig.

Zur Analyse:

Akkordanzahl 32, Form AABA

Tonart, Tonraum:

Die Tonart des Songs ist gemäß der Vorzeichen bzw. der Angabe Eb-Dur oder C-Moll.

Anmerkung: Obwohl die Skalen Eb-Dur -Ionisch und C-Moll-Äolisch natürlich vom Tonmaterial identisch sind, ist in der Praxis bei der Angabe Dur oder Moll durchaus ein Unterschied. Wird ein Song nämlich in Moll ausgezeichnet (z.B. "Black Orpheus" in Amin), so ist die Skala für die Moll-Tonika nicht Äolisch- sondern üblicherweise Harmonisch-Moll. Aber das soll an anderer Stelle genauer betrachtet werden.

Bereits beim Überfliegen des Sheets oder auch der Akkorde fällt auf, dass der Zwischenteil nicht in der Grundtonart des restlichen Songs steht. Und beide Notationen gehen mit einem Teil, der meiner Meinung nach aus einer dreimalig wiederholten zweitaktigen Phrase plus zweitaktigem Übergang zurück zum finalen A-Teil, durchaus kreativ um. Später mehr dazu.

Beginnen wir mit dem Anfang (eine wahrlich großartige Formulierung). Die Sequenz der ersten zwei Takte ist ein durchaus häufiges Motiv, auch in einigen James-Bond-Filmen als Intro vor dem jeweiligen Titelthema zu hören. Auf der Gitarre ist der gewünschte Sound meines Erachtens am besten auf der D-Saite realisierbar:


Unglücklicherweise können diese Akkorde leichter gespielt und der Klang aufgenommen werden, als dass man sie vernünftig und verständlich in Akkordsymbolschrift notieren könnte. Im iRealPro ist dies meiner Meinung nach fast optimal gelöst, wobei wie schon erwähnt die schönste Stimme in der Mitte zwischen den hohen und den Basssaiten liegt. Der Ton auf der D-Saite wandert vom G (5) über b6 und 6 zur 7 (Bb) was am Ende einfach wieder Cmin7 ergibt.

Um die Struktur eines Standards zu verinnerlichen, empfiehlt sich die Visualisierung in Stufen, ohne die dedizierte Angabe des jeweiligen Akkordnamens. Ob die folgende Darstellung mit den Konventionen einer allgemein anerkannten Stufen- oder Funktionstheorie konform geht, mag ich nicht zu sagen, ich finde, es taugt.

Zugrunde liegen die Stufen der Durtonleiter, also I-ii-iii-IV-V-vi-vii, wobei große römische Ziffern für Dur, kleine für Moll-Akkorde verwendet werden. Als bekannt vorausgesetzt wird

Stufe - Akkordtyp

I Dur-maj7
ii Moll-7
iii Moll-7
IV Dur-maj7
V Dur-7
vi Moll-7
vii Moll-7/b5

Eine Zuordnung (und auch Reihenfolge), die man sich unbedingt einprägen sollte.

Notiert man einen Song nun nur noch mit den Stufensymbolen, so stößt solcher Aufschrieb bei häufigen Tonartwechseln oder Modal Interchanges an seine Grenzen der Anschaulich- und Verständlichkeit. Das Bezugssystem wechselt einfach zu oft. Die Vorteile (leichte Erlern-, Merk- und Transponierbarkeit) sind allerdings enorm...

Ist ein Akkord ohne Zusatz im Original notiert, so wird der in obiger Tabelle stehende Vierklang intoniert. Zum Beispiel bedeutet ii in C-Dur Dmin7 oder V in D-Dur A7.

Ändert der Komponist eine Stufe vom Tongeschlecht oder der Erweiterung, ist dies aus der Stufe ersichtlich. Ist beispielsweise in C-Dur II7 notiert, meint dies den Akkord auf der 2. Stufe, allerdings in der Ausführung als Dur-7, also Septakkord. Anhänger der Funktionstheorie (wie ich) geben dann eventuell noch in Klammern die Funktion des Akkords an. Im Fall eines D7 in C-Dur wäre die Schreibe II7 (V/V). Im Klartext: 

Die 2. Stufe als Dominantseptakkord mit der Funktion "Doppeldominante", die V der V.

Das vorliegende "Cry me a River" ist ein Grenzfall für die Anwendung der Stufenschreibweise. Zitat Po (in "Kung Fu Panda"): "Mein Erzfeind: Stufen!"

Ich habe es wie folgt notiert:

A-Teil: Tonart I (Dur)

/ vi5 vib6 / vi6 vi7 / ii V / I V/vi /

/  VI7 / II7 / ii V / I (V/vi) /

/ vi5 vib6 / vi6 vi7 / ii V / I V/vi /

/  VI7 / II7 / ii V / I ii-V/iii /

---

B-Teil: Tonart neu: Aus iii (bezogen auf ursprünglich I-Dur) wird i-Moll

/ i IV7 / bVI7 V7 / 3x

Tonart neu: i-Moll wird zu I-Dur

/ I iii / ii VI7 /

---

A-Teil (zum Abschluss):

/ vi5 vib6 / vi6 vi7 / ii V / I V/vi /

/  VI7 / II7 / ii V / I (V/vi) /

Das sieht jetzt wirklich gruselig aus. Ich kann Euch aber nur beknien, dieses Schema wirklich einmal zu durchdenken, dann "krallt" sich der Song quasi ins Gedächtnis.

Anmerkungen / Erläuterungen Takt für Takt:

In den ersten beiden Takten finden wir die detailliert besprochene "James-Bond-Figur", Takt 3 und 4 enthalten eine ii-V-I-Verbindung plus eine Zwischendominante, welche zum Takt 5 führt.

Takt 5 bis 8 enthalten – zum Teil etwas verborgen – jeweils zum nächsten Takt führende Dominanten, also eine Dominantkette, die auf der I endet, grob formuliert: V/V/V - V/V - V - I
Die im Sheet angegebenen vorgestellten ii-Moll-Akkorde, sogenannte "Related-ii" kann man spielen, muss man aber nicht. In der zweiten Hälfte von Takt 8 finden wir dann jeweils eine Dominate zur Wiederholung des A-Teils oder eben zum B-Teil.

Im B-Teil ab Takt 17 habe ich stark vereinfacht. Zunächst ziehe ich die Ansicht des Sheets, dass einfach die zweitaktige Figur insgesamt dreimal gespielt wird, der an Umkehrungen reichen Version des iRealPro vor. Das ganze ist eine zweitaktige Blues-Figur, bei der ich den zweiten Akkord funktional als V zur vorhergehenden ii sehe, welche wir aber als Molltonika i festgelegt hatten. Von daher ist die Beschreibung ii-V nicht korrekt. Ich bemerkte ja bereits, dass dieser Song nur bedingt für einen Aufschrieb in Stufen tauglich ist. Ich denke also in unserem Fall konkret die Akkorde

/ Gmin7 C7 / Eb7 D7 /

Die letzten beiden Takte des B-Teils dienen zur Rückkehr in den A-Teil. Statt ii der Ausgangs- spiele ich die ii der aktuellen Tonart, also Amin aus G statt Dmin aus C-Dur (was ohnehin nicht gelungen ist, da wir uns ja in Eb-Dur b zw. C-Moll und nicht in C-Dur befinden).

Mittels meines privaten "Leuchtturmprinzip", welches an anderer Stelle erwähnt sein mag, merke ich mir die markanten Stellen des Songs:

- das markante 2-taktige James-Bond-Thema auf der vi
- in Takt 5 die vi als Dominantseptakkord, welcher leitet zur
- Doppeldominante in Takt 6, dann über ii-V zur I
- Der B-Teil startet auf der iii als Moll-Tonika
- nach 3 Durchgängen wird diese Molltonika zur Durtonika
- Rückkehr zum A-Teil über V7

Falls Ihr sie noch nicht beherrscht, lernt die Stufenakkorde der Durtonleiter! Probiert Euer Wissen an "Cry me a River" aus. Ich habe es mal getestet (Transponieren nach B-Dur, dann nach Ab-Dur) – das flutscht. Legt Euch die Stufen der gewünschten Zieltonart parat, insbesondere I und vi, dann legt los.

Vielleicht hilft dieses Artikel ja, dass dieser schöne Standard einmal mehr wohlklingend von einer Sessionbühne schallt und nicht einmal mehr dahingemeuchelt wird.

Ich wünsche allen Lesern einen guten Rutsch und alles Beste für 2019.

Euer

Gige

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen